Neve Hanna
2025 jährte sich der Jugendaustausch zwischen Wiesbaden und dem israelischen Kinderheim Neve Hanna zum zehnten Mal. Aus diesem Anlass führte Spiegelbild - Politische Bildung aus Wiesbaden ein Interview mit Antje C. Naujoks. Das israelische Kinderheim Neve Hanna blickte 2025 auf 50 Jahre pädagogische Arbeit zurück – und auf eine noch längere Geschichte, die mit dem in den 1920er Jahren aufgebauten Berliner Waisenheim Ahawah in Verbindung steht. Gegründet für Kinder aus zerrütteten Elternhäusern, ist Neve Hanna ein Ort der Vielfalt und des sozialen Zusammenhalts. Seit zehn Jahren verbindet das Heim eine Partnerschaft mit dem Wiesbadener Bildungsträger Spiegelbild. Im Gespräch erzählte Antje C. Naujoks über die Ursprünge sowie das besondere Profil von Neve Hanna und was der Jugendaustausch nach dem 7. Oktober 2023 bedeutet – inmitten einer Welt, die aus den Fugen geraten scheint.
Spiegelbild: Antje, wie bist du zu Neve Hanna gekommen – und was genau machst du dort?
Antje C. Naujoks: Vielleicht müsste die Frage eher lauten: Wie ist Neve Hanna zu mir gekommen? Das Kinderheim suchte jemand, der unter anderem Deutsch spricht. Ich bin in Deutschland aufgewachsen, kam als 20-Jährige zur Fortsetzung meines Studiums nach Israel, wo ich seit fast 40 Jahren lebe – also den Großteil meines Lebens.
Hier habe ich lange in der akademischen Welt gearbeitet, auch in Yad Vashem, der israelischen Holocaust-Gedenkstätte. Irgendwann wurde meine Abteilung verkleinert, und ich sagte mir: Jetzt ist der richtige Moment für einen Neuanfang. Ich wollte ohnehin weg vom Schreibtisch, zurück zu Begegnungen mit Menschen.
Eine Freundin erzählte David (Dudu Weger), dem langjährigen Heimleiter, und dem Vorstandsvorsitzenden Chaim Appel, dass ich ein neues Aufgabenfeld suche. Das war vor gut 23 Jahren. Nur wenige Monate zuvor war Hanni Ullmann gestorben, die Gründerin von Neve Hanna – eine beeindruckende Frau, die als deutsche Jüdin Ende der 1920er-Jahre ins damalige britische Mandatsgebiet Palästina emigriert war. Sie hatte die deutschsprachigen Kontakte des Kinderheimes gepflegt und war damit eine zentrale Brückenfigur zwischen Israel und Deutschland.
Als ich im Februar 2003 meine Arbeit für Neve Hanna anfing, überreichte man mir Hunderte Visitenkarten – lose gesammelt, ohne System. Kein digitales Archiv, keine E-Mail-Verzeichnisse. Hanni Ullmann kannte jeden einzelnen Menschen hinter einer solchen Karte persönlich und hat bis kurz vor ihrem Tod im Alter von 94 Jahren alle Kontakte gepflegt. Es war beeindruckend – und herausfordernd zugleich.
Ich begann als Beauftragte für Öffentlichkeitsarbeit. Schnell kamen weitere Aufgaben dazu: Förderanträge verfassen und die Betreuung der deutschen Freiwilligen. Letzteres wurde zu einem Herzstück meiner Arbeit. Heute bin ich gemeinsam mit meinem Kollegen Ishay Talmi, der unseren therapeutischen Streichezoo leitet, Koordinatorin des deutschen Freiwilligenprogramms von Neve Hanna. Dieses Programm können wir dank des ehrenamtlichen Engagements unseres deutschen Freundesvereins „Neve Hanna Kinderhilfe e.V.“ und der Förderung des Bundes als anerkannten Internationalen Jugendfreiwilligendienst (IJFD) anbieten.
Spiegelbild: Wenn du heute an Neve Hanna denkst – was macht diesen Ort für dich besonders?
Antje C. Naujoks: Ehrlich gesagt: Der Ort als solcher spielt keine Rolle. Was ihn besonders macht, sind die Menschen. Neve Hanna ist ein Zuhause für Kinder aus hochbelasteten Verhältnissen – geprägt von Vernachlässigung, Verarmung, Hunger und Not, sowie physischer wie psychischer Gewalt und oftmals auch Missbrauch. Die israelischen Sozialbehörden verweisen Kinder zu uns, deren leibliches und seelisches Wohl im Elternhaus gefährdet ist und denen wir mit den bei uns durchgeführten therapeutischen Maßnahmen helfen können.
Du musst mit Leib und Seele dabei sein. Menschen wie Dudu, der die Heimleitung 1981 für fast 40 Jahre übernahm, haben das vorgelebt. Heute hat eine neue Generation unter der Leitung von Itzik Bohadana übernommen, der ebenfalls Neve Hanna sozusagen lebt. Viele Mitarbeiter*innen sind schon seit Jahren in Neve Hanna. Hier wird nicht einfach „Betreuung“ geleistet, denn Neve Hanna ist kein Job bei dem du auf die Uhr schaust, wann Dienstschluss ist. Es ist eine Aufgabe, eine Lebenshaltung.
Spiegelbild: Du hast schon einiges angedeutet – vielleicht magst du noch etwas genauer erklären, was Neve Hanna von anderen stationären Einrichtungen der Jugendhilfe unterscheidet, sowohl in Israel als auch im Vergleich zu Deutschland?
Antje C. Naujoks: Sehr gerne. Neve Hanna ist tatsächlich Pionier unter den Kinderheimen in Israel, was wir vor allem Hanni Ullmann verdanken. Sie hatte eine außergewöhnliche Vision, die weit über die damaligen Standards hinausging.
Als junge Frau gehörte sie in den 1920er Jahren zum pädagogischen Team der Ahawah in Berlin. 1929 wanderte sie aus zionistischer Überzeugung mit ihrem Mann in das vorstaatliche Israel aus. Letztlich widmete sie ihr Leben dem Aufbau einer neuen sozialen Infrastruktur für Kinder in Not. Damals dominierten sogenannte „Jugenddörfer“ – Einrichtungen mit Schlaf- und Speisesälen, in denen viele Kinder untergebracht waren, oft Waisen oder Flüchtlinge, die hier vor der NS-Verfolgung in Sicherheit gebracht worden waren. In späteren Jahren waren es kindliche oder jugendliche Shoah-Überlebende, die hier ein Zuhause fanden. Hanni Ullmann erkannte bald: Diese Art der „Massenbetreuung“ wird den Bedürfnissen der Kinder nicht annähernd gerecht. Die psychisch-emotionalen Anforderungen an eine gesunde Entwicklung sind in großen Gruppen nur schwer zu erfüllen.
Spiegelbild: Das klingt nach einer echten pädagogischen Innovation.
Antje C. Naujoks: Genau. Sie setzte sich für ein familienähnliches Modell ein, das dem Recht jedes Kindes auf eine fürsorgliche, stabile Umgebung gerecht wird. 1974, als sie bereits Pensionärin war, gründete sie Neve Hanna, das erste Heim in Israel, das konsequent auf kleine Gruppen mit familiärer Atmosphäre setzte. Jedes Kind hat hier eine Privatsphäre. Zwei Kinder teilen sich ein Zimmer mit angegliedertem Bad. Jede Wohngruppe mit maximal 14 Jungen und Mädchen zwischen 6 und 18 Jahren ist eine Familie mit eigener Wohnung, die über ein Wohnzimmer und eine große Küche mit Essecke, aber auch eine Waschküche und eine Computerecke verfügt – alles ist so gestaltet, dass sich die Kinder nicht wie in einer Institution fühlen, sondern wie in einem Zuhause.
Spiegelbild: Also eine ganz bewusste Balance zwischen professioneller Begleitung und familiärer Geborgenheit?
Antje C. Naujoks: Ganz genau. Und das wirkt sich tief auf die Lebensqualität der Kinder aus. Diese Nähe und Kontinuität unterscheidet Neve Hanna von vielen anderen Einrichtungen – auch im Vergleich zur stationären Jugendhilfe in Deutschland. Ich habe schon erwähnt, dass viele unserer Mitarbeitenden sehr lange bei uns sind. Sie bringen nicht nur Kompetenz, sondern auch Lebenserfahrung und persönliche Stabilität mit. Trotz der intensiven Verantwortung und der engen täglichen Begleitung der Kinder können die Hauseltern ein eigenes Familienleben führen. Anders als in vergleichbaren deutschen Konzepten müssen sie nicht kinderlos sein oder mit den betreuten Kindern unter einem Dach leben. Und doch ist das Verhältnis nicht strikt getrennt: Die Kinder aus Neve Hanna kennen auch die Kinder der Hauseltern gut – all das schafft Vertrautheit und eine sichere, stabile Umgebung, die gerade für so herausgeforderte Kinder, wie es die schwer traumatisierten Neve-Hanna-Kinder sind, so wichtig ist.
Rund 65 Mitarbeitende aus ganz unterschiedlichen Bereichen, von der Sozialarbeit über Therapie bis zur Hauswirtschaft, begleiten unsere 80 in Neve Hanna lebenden Kinder und die 30 Kinder der zwei Tageshortgruppen, die an den Nachmittagen bei uns sind. Diese ganzheitliche Betreuung ist Teil unseres Konzepts zu dem wie erwähnt auch deutsche Freiwillige im Rahmen des IJFD ebenso wie israelische Volontäre gehören, die sich ein Jahr vor ihrem Wehrdienst bei uns engagieren.
Spiegelbild: Wie wirkt sich das religiöse Profil der Einrichtung auf den Alltag aus?
Antje C. Naujoks: Neve Hanna ist ein jüdisches Heim, das mit dem konservativen Judentum affiliiert ist. Das bedeutet, wir leben die religiösen Traditionen – von Feiertagen bis zu den koscheren Speisegesetzen – als Teil eines ethischen Wertesystems. Wir sind darum bemüht, unseren Kindern Werte wie Bewusstsein, Gerechtigkeit und Gleichstellung, aber auch gesellschaftliche Verantwortung näherzubringen, auch indem wir sie selbst vorleben.
Israel hat eine sehr heterogene Gesellschaft. Zwar ist die Mehrheit jüdisch, doch Juden wanderten aus vielen Nationen der Welt nach Israel ein. In Neve Hanna haben wir Kinder, deren Familien aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion, aus Äthiopien, aber auch aus arabischen Ländern stammen. Zudem stellen arabische Bürger*innen über 20 Prozent der israelischen Gesellschaft. Neve Hanna pflegt seit langem bewusst Beziehungen und Kooperationen mit muslimischen Beduinen des Landes. Dieser interreligiöse Austausch ist kein „nice to have“, sondern fester Bestandteil unseres religiösen Verständnisses und unseres pädagogischen Konzeptes. Das Konzept der friedvollen Koexistenz prägt Neve Hanna, weshalb wir für die bei uns lebenden jüdischen Kinder Jugendtreffen mit arabischen Kindern der muslimisch-beduinischen Gemeinschaft anbieten. Auch die Erwachsenen pflegen freundschaftliche Kontakte.
Spiegelbild: Und was bedeutet diese Haltung in der gelebten Praxis – für euch, für die Kinder, vielleicht auch für die internationale Zusammenarbeit?
Antje C. Naujoks: 2025 ist ein Jahr der Jubiläen: 100 Jahre Ahawah in Berlin, 50 Jahre Neve Hanna, 50 Jahre Freiwillige aus Deutschland – und 10 Jahre deutsch-israelische Jugendbegegnung mit euch in Wiesbaden. Aber Zahlen allein bedeuten wenig. Es sind die Menschen, die ihnen Leben geben – ihre Geschichten, ihr Engagement, ihre Beziehungen.
Dabei steht das Kennenlernen von etwas Neuem an erster Stelle. Nicht nur für die 18- bis 19-jährigen Freiwilligen, die für ein Jahr aus Deutschland nach Neve Hanna kommen, sondern auch für die Jugendlichen aus Neve Hanna und Wiesbaden, die an unserem Austausch teilnehmen. Seit zehn Jahren gibt es dieses wunderbare Programm. Mal rücken die Jugendlichen enger, mal lockerer zusammen. Aber immer setzt die Begegnung irgendetwas in Bewegung. Junge Menschen aus Israel und Deutschland begegnen sich, stellen einander Fragen und entdecken plötzlich neue Perspektiven. Aus Fremden werden Gesprächspartner*innen, die einander nicht mehr fremd sind, sondern Verständnis füreinander aufbringen.
Spiegelbild: Wenn wir auf die letzten zehn Jahre unserer Kooperation zurückblicken, kommen wir am 7. Oktober nicht vorbei – ein massiver Einschnitt für Israel. Seitdem war keine Wiesbadener Gruppe mehr bei euch. Was hat dieser Tag für Neve Hanna bedeutet?
Antje C. Naujoks: Der 7. Oktober hat sich tief in unseren Alltag eingebrannt. Wir spüren ihn in jeder Stunde, in jeder Minute. Mitarbeitende von Neve Hanna haben Angehörige verloren. Kinder, die bei uns leben, stammen aus der umkämpften Region im Süden Israels. Wir alle haben den Dauer-Raketenalarm und vor allem die Ungewissheit, was als nächstes wohl kommen mag, erlebt.
Dieser Tag – das größte Pogrom an Jüdinnen und Juden seit der Shoah – hat tiefe Wunden in der gesamten israelischen Gesellschaft hinterlassen. Neve Hanna ist Teil dieser Gesellschaft, also sind auch wir unmittelbar betroffen.
Unter den Geiseln waren Kinder – das hat unsere Kinder besonders erschüttert. Als im November 2023 einige der minderjährigen Geiseln freikamen, war das ein Moment der Erleichterung. Doch Ende Februar 2025 kam die Nachricht: Kfir und Ariel – neun Monate und drei Jahre alt bei ihrer Entführung – haben nicht überlebt. Für unsere Kinder war das, als wären eigene Geschwister ermordet worden. Und sie begreifen: Diese Kinder wurden getötet, weil sie Juden waren. Das trifft sie bis ins Innerste.
Und dann ist da Shimi. Er kam im Vorschulalter nach Neve Hanna und war bis zum 18. Lebensjahr bei uns. Er war 29 Jahre alt, als ihm beim Nova-Festival, zusammen mit 360 jungen Menschen, die einfach nur Musik genießen wollten, das Leben genommen wurde.
Spiegelbild: Wie habt ihr die Folgen im pädagogischen Alltag erlebt?
Antje C. Naujoks: Sehr unmittelbar. Viele Kinder waren zum Feiertag bei ihren Familien – in Städten wie Sderot, Netivot oder Ofakim. Dort erlebten sie den Angriff hautnah. Unaufhörlich Raketenalarm, kaum Schutzmöglichkeiten und zudem Straßenkämpfe. Ein Beispiel aus unserem Alltag: Rund um Neve Hanna war eine große Baustelle. Die Kräne dort machen ein Geräusch, das für den Bruchteil einer Sirene so wie eine anspringende Sirene klingt, die vor nahenden Raketen warnt. In den Monaten nach dem 7. Oktober hat uns das immer wieder aufgeschreckt – Kinder wie Erwachsene. Obwohl wir wussten, dass es nur ein Baugeräusch war, reagierte der Körper reflexartig. Eine klassische Schreckreaktion verursacht durch ein Trauma.
Die Folgen für unsere Kinder sind bis heute spürbar: Bettnässen, Albträume, plötzlich ausbrechende Emotionen, die sich ohne Ziel, ohne Adressat entladen – weil das, was geschehen ist, was man erlebt hat, kaum verarbeitet werden kann. Das ist Bestandteil unseres Alltages, so wie in ganz Israel.
Spiegelbild: Eigentlich wollten wir am 14. Oktober 2023 mit einer Gruppe nach Israel fliegen. Doch nach dem Angriff aus dem Gazastreifen war das natürlich unmöglich. Unsere Kinder haben die Ereignisse aufmerksam verfolgt – viele wollten helfen. Sie fragten: „Was können wir tun?“ Einige hatten durch einen früheren Besuch Freund*innen in Neve Hanna gefunden und hielten über Instagram, über Bilder und Symbole Kontakt.
Antje C. Naujoks: Wir wissen, die deutschen Jugendlichen waren fassungslos, viele konnten kaum einordnen, was geschah; kein Wunder, wir als Betroffene konnten das auch nicht. Auch unsere Kinder fanden kaum Worte. Es blieb bei nonverbalen Zeichen – Gesten, Bilder, kleine Botschaften. Aber auch diese wortlose Verbindung war wichtig, sie war Seelenbalsam.
Im Sommer 2024 konnte dann wieder eine Gruppe von Neve Hanna nach Deutschland reisen – ein großer Schritt. Mitten im Krieg konnten unsere Kinder in Deutschland wenigstens für einige Tage zur Ruhe kommen. Dort gab es keine Raketenangriffe. Sie konnten draußen spielen, einfach Kind sein. Die Begegnung mit anderen Jugendlichen, mit ähnlichen Interessen, hat sie aufgrund der damaligen Umstände sogar noch tiefer geprägt.
Auch wenn derzeit nur wir reisen können und keine deutschen Gruppen zu uns kommen: Diese Austauschprogramme haben immer noch eine große Bedeutung. Sie schaffen sichere Räume – auch in unsicheren Zeiten. Unsere Kinder entdecken neue Religionen, Bräuche, Speisen. Aber sie erleben auch: Antisemitismus ist in Deutschland heute so präsent wie lange nicht mehr. Und es wird zunehmend schwieriger, mit einer jüdisch-muslimischen Gruppe durch Deutschland zu reisen.
Spiegelbild: Die Empathie für die israelische Gesellschaft ist – in Deutschland und weltweit – wohl so gering wie selten zuvor. Wie wird das in Neve Hanna wahrgenommen?
Antje C. Naujoks: Da muss ich erst mal tief durchatmen. Es ist ein großes, schwieriges Thema. Momentan sind die meisten Menschen in Israel – gezwungenermaßen – stark mit sich selbst beschäftigt. Die Herausforderungen auf unendlich vielen Ebenen sind immens.
Und doch nehmen wir den wachsenden Antisemitismus weltweit sehr genau wahr. Leider ist das nicht neu. Oft zucken wir nur mit den Schultern – wir wussten es längst. Aber dass in Deutschland wieder offen Parolen wie „Juden ins Gas“ skandiert werden, ist so erschütternd, dass vielen die Worte fehlen. 2014 hörte man solche Rufe zum ersten Mal, heute scheint es beinahe Alltag.
Wir Israelis fühlen uns davon nicht unmittelbar bedroht, wenngleich wir wissen, dass uns der Terror überall ereilen kann. Wenn ich zum 6. Oktober zurückkehre darf … In Israel war der Abend der Beginn eines Feiertags. Die Menschen saßen zum Festmahl zusammen, feierten mit Familie und Freunden – und wurden am nächsten Morgen brutal aus dem Schlaf gerissen. Ich erspare mir weitere Beschreibungen dessen, was zwischen Leben und Tod lag – das, was diesen Menschen angetan wurde. Keine Frage, Krieg ist immer grausam – für alle Seiten –, aber dass Israel angegriffen wurde und sich verteidigen musste, wurde von der Welt nur kurze Zeit wahrgenommen. Schnell wurden wir Opfer als Täter gebrandmarkt. Für eine Institution wie Neve Hanna, die auf Dialog, Toleranz und Respekt setzt, ist diese pauschale Verkehrung schwer nachzuvollziehen, erst recht, wenn antisemitische Motive in den Argumenten mitschwingen. Darf ich noch etwas anmerken? Bei dem Überfall wurden auch viele israelische Araber ermordet und verletzt. Unter den Geiseln waren beduinisch-muslimische Israelis, also Angehörige der Gemeinschaft, mit der wir uns für eine respektvoll gelebte friedliche Koexistenz einsetzen. Viele in Deutschland wissen nicht, dass auch unsere beduinischen Freund*innen am 7.Oktober 2023 einen hohen Preis gezahlt haben.
Ich möchte noch einen weiteren Aspekt der israelischen Realität einfließen lassen, der auch für Neve Hanna relevant ist: Unsere Jugendlichen stehen kurz vor Antritt ihres obligatorischen Wehrdienstes. Übrigens gilt das auch für Frauen, obschon sie unter gewissen Voraussetzungen einen sozialen Ersatzdienst leisten können. Diese Jugendlichen sind 17, am Ende ihrer Schulzeit. Für die meisten steht fest: „Natürlich gehen wir“, weil sie das Bedürfnis haben, zur Verteidigung ihres Landes – und somit ihres Zuhauses – beizutragen, doch zugleich quält in diesen schwierigen Tagen alle die Frage: „Was wird mich erwarten?“ Das beschäftigt uns in Neve Hanna sehr.
Spiegelbild: Trotz all der Herausforderungen – gibt es etwas, das du dir für die kommende Zeit wünschst?
Antje C. Naujoks: Sich Frieden zu wünschen ist utopisch, solange es Menschen gibt, die – und das meine ich ganz generell – radikale, extremistische Ansichten vertreten und mit Waffeneinsatz umsetzen wollen und dadurch das Existenzrecht anderer Menschen aufgrund von Religion, Herkunft oder Ähnlichem negieren. Gerade deshalb wünsche ich mir noch mehr diplomatische Friedensabkommen mit unseren arabischen Nachbarstaaten. Solche Verträge sind zunächst nur Papier. Aber wenn wir sie mit Begegnungen füllen, so wie Neve Hanna sie auf vielen unterschiedlichen Ebenen pflegt, darunter vor allem auch unser bereits ein Jahrzehnt währender Jugendaustausch mit Euch, dann werden Verträge mit Leben gefüllt. Ich hoffe, dass solche Begegnungen die Regel werden und sie dem Aufruf von Margot Friedländer folgen: Menschen, benehmt euch wie Menschen.